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Filme, 
Interview

Jenseits von Gott

Ein Interview mit Amichai Lau Lavie

kultur
gesellschaft
Kajo Roscher
07.05.2025

Rabbi Amichai Lau Lavie ist Erbe einer 38 Generationen langen Rabbiner-Dynastie – und zugleich Dragqueen und queerer Vater. Der Protagonist von Shabbat Queen erfindet mithilfe von Kunst und Community religiöse Traditionen neu. 

—In der Dokumentation können wir sehen, wie stark du dich seit Jahren in und für Communities einsetzt. Was macht Gemeinschaft so bedeutungsvoll für dich?

Amichai Lau Lavie: Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der Einsamkeit zu einer Art Plage geworden ist. In allen Kulturen ist das Prinzip der Gemeinschaft tief verwurzelt. Wir sind nicht nur für uns selbst hier. Um frei zu sein, muss ich dafür sorgen, dass auch du frei bist. Wenn meine Schwester leidet, bin ich für sie da – und sie wird für mich da sein, wenn ich Hilfe brauche.
Gemeinschaft steht für menschliche Widerstandskraft und Mitgefühl. In der jüdischen Tradition – wie auch in vielen anderen – liegt genau darin unsere Kraft. Aber Gemeinschaft ist kein Selbstläufer. Ich bin in einer eng verbundenen Familie und Gemeinschaft aufgewachsen, fand mich später aber oft außen vor. Da habe ich erkannt: Ich brauche diese Verbindung – und wenn ich sie selbst mitgestalte, profitiere nicht nur ich davon, sondern auch andere.

—Welche Momente waren für dich besonders prägend auf deinem religiösen Weg?

Ein Schlüsselmoment war in meinen frühen Zwanzigern. Ich fühlte mich verloren – wie im R.E.M.-Song: „Losing My Religion“. Aufgrund meiner Queerness und meiner politischen Überzeugungen hatte ich das Gefühl, in meiner Religion keinen Platz zu haben. Diesen Platz fand ich schließlich in der Natur. Ich saß eines Tages unter einem Baum, meditierte und schloss die Augen – und spürte die Präsenz von etwas Größerem. Für mich war das die Göttin, Mutter Natur. Und ich fühlte: Ich bin nicht allein. Etwas trägt und hält mich. 
Ein weiterer entscheidender Moment war, als meine älteste Tochter – heute 18 Jahre alt – als Neugeborene im Krankenhaus lag. Ich saß vor ihrem kleinen Körper, angeschlossen an Schläuche, und fragte mich: Was kann ich tun, damit sie sich sicher fühlt?
Dann erinnerte ich mich an die Schlaflieder und Gebete meiner Kindheit. Ich wusste: Diese Dinge trage ich in mir. Sie sind Ressourcen, auf die ich in Krisen zurückgreifen kann. Also sang ich ihr diese Lieder vor. Sie hat es überstanden – und es geht ihr heute gut.

—Warum hast du Lab/Shul als „Gott-optionale“ Gemeinschaft gegründet – und was bedeutet das konkret?

Viele Menschen reagieren empfindlich auf das Wort „Gott“. Religion hat viele von uns enttäuscht – durch patriarchale, frauenfeindliche oder queerfeindliche Strukturen. Es gibt viel Schönes in der Religion, aber auch viele Barrieren, die uns daran hindern, uns gesehen oder geliebt zu fühlen. Lab/Shul versteht sich als spirituelles Labor. Wir probieren Dinge aus – und behalten uns vor, unsere Perspektiven zu ändern. Der Begriff „Gott-optional“ soll Menschen ansprechen, die mit dem Gottesbegriff nichts anfangen können – sei es aus atheistischen, agnostischen oder feministischen Gründen. Für manche ist „Gott“ eine Metapher, für andere eine reale Kraft. Beides hat Platz. Es geht nicht darum, dass es für alle dasselbe bedeuten muss.

—Wie erlebst du die Verbindung von Religion und Kreativität?

Religion ist im Kern ein kreativer Akt. Was wir essen, was wir sprechen, wie wir singen – all das ist Ausdruck menschlicher Gestaltungskraft. Über Generationen hinweg haben wir Rituale, Geschichten, Melodien und Rezepte entwickelt.
Viele erleben religiöse Praxis heute als bloßes Wiederholen, als „copy-paste“. Dabei ist sie eigentlich eine Einladung zur schöpferischen Mitwirkung. Gerade jetzt – am Vorabend von Pessach – frage ich mich: Worüber sprechen wir in diesem Jahr? Es ist ein schweres Jahr. Es herrscht Krieg, viele Menschen sind traumatisiert – andere tragen zu diesem Trauma bei.
Da reicht es nicht, einfach nur das Überlieferte zu lesen. Vielleicht möchte ich ein neues Gedicht einbringen, eine persönliche Frage stellen. Religion ist kein Museum, sondern ein lebendiger Prozess. Und je mehr Kreativität wir einbringen, desto mehr wird sie Teil unseres Lebens.

—Was hoffst du, dass Menschen aus der Dokumentation mitnehmen?

Wir erleben gerade eine schwierige Zeit. Als jemand, der in Israel geboren ist und jüdisch ist – und das auch liebt – weiß ich, wie problematisch diese Identität heute von vielen wahrgenommen wird. Die politische Lage ist dramatisch, die aktuelle israelische Regierung ist fürchterlich– und das, was in Israel und Palästina geschieht, ist tragisch.
Ich gehöre zu einer jüdischen Stimme, die zwar nicht dominant ist, aber auch nicht allein. Sie sagt: Es geht nicht um „entweder – oder“. Es geht um „und“. Ich kann jüdisch und queer sein. Ich kann sowohl Israel als auch Palästina unterstützen. Ich kann für das Überleben meines Volkes eintreten – und gleichzeitig für das meines Nachbarn. Wenn wir dieses „und“ nicht aushalten, fallen wir zurück in ein binäres Denken, das uns von unserer Menschlichkeit trennt. Meine Botschaft ist deshalb immer: “und” und “beides”. Wenn der Film zeigen kann, dass es jüdische Stimmen wie meine gibt – laut, stolz und offen für das Dazwischen –, dann ist das ein Weg in Richtung Frieden, Akzeptanz, Toleranz – und gegenseitige Würde.

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Kajo Roscher
Redakteurin

Kajo Roscher ist in Berlin geboren und studiert aktuell Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. 2023 hat they ein Praktikum bei der taz gemacht und veröffentlichte Artikel im Berlin- und Kulturteil der taz. Vor dem Studium nahm Kajo Roscher am Journalismus Programm der School of The New York Times teil und absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Human Rights Film Festival Berlin.

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